Das Wallis
Die Rhone, der Rotten, wie die Oberwalliser ihn nennen, durchfliesst eigenwillig seit eh und je den tiefen Taltrog, der durch sie und den Rhonegletscher ausgehöhlt wurde. Mit zäher Beharrlichkeit hat sie sich im Verlaufe von Jahrmillionen durch den harten Granit und Quarz gebissen. Schon die Römer waren von der majestätischen Pracht dieses faszinierenden Tales mit seinen aberdutzenden von Seitentälern beeindruckt und nannten es schlicht «Vallis», das Tal.
Das reissende, milchig gefärbte Gletscherwasser nagte jahrtausendelang an den steilen Flanken des Bergmassivs, brachte ab und zu auch Hänge und Felswände zum Einsturz, staute sich in der Talebene und überflutete dieses mit Geröll und Schlamm, zerstörte Kulturen und liess viele Sumpfgebiete zurück, so dass diese Ebene erst nach einer erfolgreichen ersten Rhonekorrektur zwischen 1863 und 1894 mit Hilfe von Bundessubventionen in fruchtbares Kulturland umgewandelt werden konnte. Eine zweite Pionierleistung wurde mit der verkehrstechnischen Erschliessung vollzogen. Vor allem diese weckte das Wallis aus seinem Dornröschenschlaf auf und schuf die Grundlage für eine blühende wirtschaftliche Entwicklung. Innert kürzester Zeit entwickelte sich das Wallis dank dieser Erneuerungen vom mausarmen Bergkanton zu einem Industrie- und Tourismuskanton und stellte sich gleichzeitig an die Spitze des schweizerischen Obst-, Gemüse- und Weinbaus.
Kaum irgendwo im Alpengebiet sind die Naturgegensätze so gross wie im Wallis. Nach aussen ist dieser Bergkanton rundum von mächtigen Bergketten umgeben, im Norden von den Berner Alpen, im Süden von den Walliser Alpen. Von den 82 Viertausendern im gesamten Alpengebiet befinden sich 41 auf Walliser Boden. Der höchste Punkt (Dufourspitze) liegt auf 4634 m, der tiefste Punkt am Genfersee auf 372 m. ü. M. Die ungünstige Topographie, die immer wieder auftretenden Naturkatastrophen, die geographische Abgeschiedenheit infolge fehlender Verkehrswege verhinderten bis zur Eröffnung des Simplontunnels im Jahre 1906 einen regen Handel mit der Aussenwelt. Die Walliser waren trotz dieser Hemmnisse, der ärmlichen Verhältnisse, der Weltabgeschiedenheit und der wirtschaftlichen Rückständigkeit nie unglücklich. Im Gegenteil: sie waren immer stolz auf ihre Bodenständigkeit und ihre Naturverbundenheit. Und das sind sie noch heute. Im Gegensatz zu den übrigen Landesteilen der Schweiz lebten die Walliser bis Anfang des 20. Jahrhunderts fast ausschliesslich von der Viehhaltung und der Landwirtschaft. Sie versorgten sich restlos aus den Produkten, die sie der eigenen Scholle abgewinnen konnten. Innerhalb der Dorfgemeinschaft betrieben sie einen ausgeprägten Tauschhandel.
Der gewaltige wirtschaftliche Aufschwung, den das Wallis ab Anfang des 20. Jahrhunderts vollzog, ist in seiner Art beispiellos. Verschiedene Faktoren haben diese einzigartige Entwicklung beschleunigt. Es sind dies die verkehrstechnische Erschliessung durch die beiden Bahntunnels (Simplon 1906 und Lötschberg 1913), die in der Rhoneebene vorhandenen Landreserven an industriellem Bauland zu äusserst günstigen Konditionen, das unausgeschöpfte Potential an Arbeitskräften dank eines überdurchschnittlichen Geburtenüberschusses sowie die bis anhin ungenützten Wasserreserven zur Stromproduktion. Die neu erschlossenen Verkehrswege ermöglichten in kürzester Zeit die Wandlung der völlig isolierten Lokalmärkte in einen aufblühenden Gesamtmarkt. Doch diese gewaltigen Umwälzungen sind dem Wallis keineswegs in den Schoss gefallen. Kein Aufwand war ihm zu beschwerlich. Mit Fleiss, Ausdauer, unsäglichen Entbehrungen und harter Arbeit konnte das Wallis sich aus seiner tiefen Armut und Not loslösen und den Aufstieg zu einem blühenden Staatswesen schaffen.
Die drei grossen Industriekonzerne Lonza, Ciba und Alusuisse nahmen diese einmaligen Chancen wahr und bauten um die Wende zum 20. Jahrhundert ihre Fabriken in Gampel, Visp, Monthey und Chippis. Sie profitierten vor allem von den günstigen Bodenpreisen, den billigen Arbeitskräften sowie den lukrativen Steuervergünstigungen. Auch die bis anhin ungenützte Wasserkraft wurde auf einen Schlag zum Standortvorteil. Viele Walliser wollten allerdings von der industriellen Revolution nichts wissen und wanderten in Scharen nach Amerika aus, wo sie sich die Weiterführung einer selbstversorgenden Landwirtschaft erhofften. Viele scheiterten kläglich.
Mit einer unglaublichen Wucht hat sich das industrielle Zeitalter nicht nur im Rhonetal, sondern auch in den vielen Seitentälern sprunghaft ausgebreitet. Parallel dazu entwickelte sich in einem ungeahnten Ausmass auch der Fremdenverkehr, die touristische Erschliessung sämtlicher Regionen und Tallandschaften, so dass es dem Wallis innert knapp fünf Jahrzehnten gelang, die bis anhin von den Ausländern bevorzugten Touristenorte am Vierwaldstättersee, Genfersee und im Berner Oberland an Bedeutung zu übertreffen.
2 Kommentare
Niklaus · 16. Juni 2019 um 19:33
Jetzt habe ich deine Hommage gelesen. Ich bin erstaunt über deine Beiträge zur Entwicklung des Wallis und über die Alp Jungen. Toll. Zur Armut im Wallis würde ich meinen, dass Napoleon ebenfalls seinen Beitrag dazu geleistet hat. Du kennst das Wallis besser als viele die hier wohnen.
Studer Kurt · 11. August 2019 um 14:46
Danke vielmals für Deinen Kommentar vom 16. Juni, den ich erst heute entdeckt habe. Gruss von Kurt